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WOHIN ICH GEHÖRE

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Liebe Freunde, Lindah ist eine selbstbewusste junge Frau. Ihr fröhliches Wesen äussert sich in ihrem oft lauten und herzhaften Lachen. Auch im Erwachsenenalter hat sie noch immer viel Unsinn im Kopf und liebt es, mit anderen herumzualbern. Manche mögen diese Charaktereigenschaften negativ auffassen, doch Lindah nutzt ihre Eigenheiten zu ihrem Vorteil. In ihrem Studiengang – Theater – sind nämlich genau diese Qualitäten gefragt. Dank der Unterstützung von GOA konnte Lindah eine unbeschwerte Kindheit in einem GOA-Waisenhaus verbringen und zu der Persönlichkeit geformt werden, die sie heute ist. Gleichzeitig erhielt sie die nötige Bildung, um heute an der grössten Universität Kenias studieren zu können. Neben dem Schauspielern hat Lindah noch eine zweite grosse Leidenschaft: das Schreiben. Sie reiht Wörter und Sätze mit unglaublichem Geschick und viel Fingerspitzengefühl zu bunten und humorvollen Geschichten aneinander. Eines ihrer Werke lautet auf den Titel: "Where I belong – Wohin ich gehöre". Darin erzählt sie die Geschichte eines Strassenjungen und wie er ins CCRC-Waisenhaus gelangte. Zwar ist sie nur der Lebensgeschichte von Calvin nachempfunden, aber nichtsdestotrotz enthalten Lindahs Zeilen viel Wahres. [gallery type="rectangular" size="large" ids="12738,12737,12740,12739"] Somit zeigt der folgende Text zweierlei auf: den schwierigen Hintergrund, dem viele der Kinder in den GOA-Heimen entstammen, und das enorme Potenzial in diesen Menschen, wenn man ihnen eine Chance gibt, dieses zu entfalten.

Wohin ich gehöre

Das ist meine Geschichte. Wie ich im CCRC-Waisenhaus gelandet bin. - Calvin Otieno Es ist früher Morgen. Wir sind alle wie immer in unsere Säcke gehüllt. Diesen Tag schnüffle ich Leim aus einer grösseren Flasche wie üblich. Es fühlt sich an, als ob ich das Leben mit einem grossen Löffel esse. Meine Crew und ich sind auf den Strassen von Kibera (grösster Slum Nairobis). Stell dir vor, es ist Morgen und wir warten auf den Einbruch der Nacht. Dann platzen die unübersehbar rücksichtslosen Kanjos (Verterter der Stadtverwaltung) rein. Sie schreien aus voller Kehle: „Shika hao wanachafua Nairobi! (Fangt sie, sie verschmutzen Nairobi!)" Grosse Männer mit dicken Bäuchen strecken sich zum Boden hin und versuchen uns zu fassen. Wir machen uns auf die Flucht. Ich meine, wir haben doch nichts falsch gemacht. Wie kann unsere Anwesenheit Nairobi dreckig machen? Zudem ist es sechs Uhr morgens. Schlafen diese Männer eigentlich nie? Es gibt Zeiten, da ist das Leben nicht fair, aber ehrlich gesagt scheint heute einer meiner Glückstage zu sein. Ich bin nicht in den Händen der Stadtverwaltung gelandet; plus ich habe genügend Leim für den ganzen Tag. Grosse Strassenjungs sind versessen darauf, uns zu belästigen und unsere Habe wegzunehmen. Onyi, ein riesiger, gut gebauter dunkler Junge mit Dreadlocks (Filzlocken) und grossen roten Augen, die beinahe aus ihren Fassungen herausspringen, macht einen unerwarteten Halt bei unserer Basis. Wir möchten uns aus dem Staub machen, doch seine harsche, tiefe Stimme lässt uns wie versteinert auf dem Boden verharren. „Oya Weeeee! Nipelekeni na rada alafu zenye mumeduru zicome through faster faster!" (Hey ihr! Gebt mir die neusten Nachrichten und bringt mir schnellstmöglich alles, was ihr euch ergaunert habt!)“, schreit er. Wir versuchen alle, uns dumm zu stellen. Er entscheidet sich, uns Zeit für eine gründliche Suche zu geben. Es scheint, als ob mich das Glück verlassen hat, da ich nur zwanzig Bob (20 Shilling, ca. 20 Rappen) bei mir habe. Wenn er mich erwischt, werde ich ohne Geld zurückbleiben und zusätzlich wird er mich noch verprügeln. Deshalb mache ich mich zur Flucht bereit. Mein grosser, dreckiger Sack, welcher offensichtlich mehr wiegt als mein Körpergewicht, liegt neben mir. Ich rutsche näher zu meinem besten Freund um ihn wissen zu lassen, dass ich am Gehen bin. Im nächsten Augenblick ist niemand mehr da. Nicht einmal Onyi. Ich drehe mich zurück zu meinem Sack, damit ich mich meinen Freunden anschliessen kann. Ich erschrecke fast zu Tode, als ich einen grimmigen Mann erblicke, der meinen Sack hält. Ich denke, er weiss, dass mein Sack mein schwächster Punkt ist. Da kauert er sich nieder, wie dies sonst weisse Eltern bei ihren Kinder tun, und gibt mir Signale, dass ich meinen Sack zurückhaben kann. „Wer bist du? Unadai kunishika? (Möchtest du mich fassen?)“ frage ich. „Zii! Kujia tu (Nein, hol ihn dir bloss)", erwidert er mit sanfter Stimme. Mh! Es scheint, als kenne er sich mit Sheng (Jugendsprache in Kenia) aus. Kanjos sprechen kein Sheng. Zudem sind diese harsch. Deshalb beschliesse ich, das Risiko einzugehen. Er hält mich an der Schulter und führt mich zu einem Restaurant. Zum ersten Mal, seit ich mein Zuhause verlassen habe, sehen meine Augen einen Teller Ugali (Maisbrei) mit Hähnchen und Gemüse. Der nette Mann entscheidet sich, mich bis Olymipics, wo meine anderen Freunde sind, mitzunehmen. „Fahr zur Seite! Fahr zur Seite!“, rufe ich, als wir dort ankommen. Doch er leistet meinen Rufen keine Folge. Moment einmal, er hat sich noch nicht vorgestellt. Ich kenne ihn gar nicht! Schliesslich gebe ich aber auf und halte stattdessen ein Nickerchen. Als ich meine Augen wieder öffne, befinde ich mich in einer sehr trockenen Gegend. Könnte das Turkana (Halbwüste im Norden Kenias) sein? Oder bin ich vielleicht in Somalia? Panik steigt in mir auf. Viele Kinder auf dem Feld spielen Fussball, andere starren mich an. Sie sind sauber. Einer macht seine Hausaufgaben. Da gibt es vier Erwachsene, welche bei mir stehen. Ich vermute, dass die hier arbeiten. Mein Herz schlägt schneller und schneller. Ich bin in einem Kinderheim. Im CCRC-Waisenhaus. Ich erinnere mich an meinen Sack, meine Crew. Ich drehe mich um zu dem Mann, der mich hierher gebracht hat. Er schaut mit vielversprechenden Augen zurück. Ich kann mich nicht einmal an die Route erinnern, welche er zu diesem Ort benutzt hat. Wegrennen wäre jetzt nutzlos. So beschliesse ich, ein neues Kapitel zu beginnen und das Leben so zu nehmen, wie es ist. Dieser Ort ist mit Sicherheit nicht, woher ich komme; es ist, wohin ich gehöre. Für den Originaltext auf Englisch von Lindah Awour hier klicken